Das Cartell
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Die jüdischen Wurzeln der Moderne

Dozent Dr. Friedrich Romig über den zentralen Einfluß des Judentums auf die europäische Geistesgeschichte 

Die Summe der Beschäftigung mit einem Thema bildet manches Mal eine Art gesättigte Lösung. Wird ein Faden in sie gehängt, schießen Kristalle an. Zu einem solchen Kristall wurde die durch einen Freund zugesandte „NZZ“-Rezension (vom 20. Februar 1995) eines damals in deutscher Übersetzung durch den Campus-Verlag herausgebrachten Buches des in Österreich praktisch unbekannten, doch in Italien berühmten und geschätzten Autors Sergio Quinzio. Im Original war es unter dem für aufgeklärte Leser befremdlichen Titel erschienen: „Radici ebraiche del moderno“ (Mailand 1990).

Gleich der erste Abschnitt des ersten Kapitels trägt eine Überschrift, welche in vier Worten den ganzen Geschichtsprozeß von weit mehr als 2000 Jahren zusammenfaßt: „Die Judaisierung der Welt“. „Wenn wir“, so der Autor gleich in den ersten Zeilen seines Textes, „die gegenwärtige Wirklichkeit betrachten, kann man die Vorstellung einer Judaisierung der Welt nicht übertrieben finden“ (S. 13). „Obwohl der Einfluß dieses kleinen Volkes (der Juden) in der gesamten Geschichte des Abendlandes tiefgreifend war … nie übten seine Denker und Schriftsteller einen so großen Einfluß aus wie in dem Jahrhundert, in dem seine vollständige Vernichtung geplant war“ (ebenda). Was er unter „Judaisierung“ verstand, ist wenig später zu lesen: „Die Judaisierung der Welt, die in unserem Jahrhundert kulminiert, besteht in der Durchsetzung jüdischer Kategorien“ (S. 14). Mit „Kategorien“ bezeichnet der Autor die Schlüsselbegriffe oder „Prinzipien“ allen Denkens und Handelns.

Seine Heiligkeit Papst Pius XII., der Stellvertreter Christi, wird vor allem von jüdischer und modernistischer Seite angegriffen. Angedichtet wird ihm – gegen besseres Wissen – eine angebliche Mitschuld an der Judenvernichtung durch Unterlassung. Israel hatte ihn in Nad Vashem, eine Art zionistischer Tempelersatz zur Judenverfolgung, sogar in (auch räumlichen) Zusammenhang zu Hitler gestellt.

Quinzio zufolge ist jüdisches Denken im Unterschied etwa zur platonischen Denkweise „dynamisch, vielgestaltig, nicht reduzierbar auf ein System“ (S. 14). Es kennt kein „Lehramt“, keine Dogmen, keine „ewigen Wahrheiten“ (S. 24), die unabhängig sind von Zeit und Umständen. Schon in der ausgedehnten rabbinischen Literatur läßt sich „für fast jede Aussage … eine Gegenaussage finden“ (S. 94).Widersprüchlichkeit wird zur Grundlage des modernen dialektischen Denkens (vgl. den Abschnitt „Hermeneutik und Dialektik“, S. 93 ff.), das die logischen Grundsätze von Identität, Widerspruchsfreiheit und vom ausgeschlossenen Dritten aufhebt.

Subjektivismus, Relativismus und Toleranz gewinnen dadurch an Bedeutung. Selbst „das jüdische Heilige ist nicht überzeitlich“, es „ist sozusagen beweglich und fließend“, es „fügt sich in die Geschichte ein, hat eine Geschichte“ (S. 24) und ist „im wesentlichen materiell“ (S. 26). Das Materielle, Irdische, Physische tritt in den Vordergrund, schon bei den Speise- und Reinigungsvorschriften. Das Heilige wird profaniert, das Profane geheiligt (vgl. S. 24). „Die Schranke, die in anderen Religionen das Heilige vom Profanen trennt“, wird „niedergerissen“ (S. 27), sie verschwindet.

Dieses Verschwinden löst die hierarchische Gesellschaftsordnung auf, Gleichheit wird zum Gebot, Unterschiede an Würde, Herkunft, Geschlecht, Rasse, Religionszugehörigkeit verlieren ihre Bedeutung, Diskriminierung wird verboten. Durch seine Widersprüchlichkeit ist jüdisches Denken zutiefst „ruhelos“. „Deshalb ist jüdische Seinsweise seit jeher das Wandern, das Umherschweifen des Nomaden“, „vom unbezwingbaren Hang (geprägt), Grenzen niederzureißen, gegebene Muster zu durchbrechen, feste Gewißheiten und Grenzen aufzulösen“ (S. 15). „Die Figur des modernen Intellektuellen mit seinem kritischen Engagement gegenüber der Gesellschaft ist eine jüdische Figur“ (S. 15).

Kritisches Denken, Kritischer Rationalismus erheben in der Moderne als Methode Ausschließlichkeitsanspruch. „In der dem jüdischen Intellektuellen eigentümlichen kritischen Kraft lebt noch etwas von der alten idolatriefeindlichen Tradition seines Volkes nach“ (S. 15). „Die grundlegende, uns noch immer bestimmende Revolution des Übergangs von der Antike zur Moderne ist die jüdische Revolution, die uns von der kosmischen Sakralität zur Profanität der Geschichte gebracht hat“ (S. 15). Am deutlichsten zeigt sich die Judaisierung der Welt in der Gegenwart, die als Folgeerscheinung der Moderne den „radikalen Mangel an Zusammenhang, Unsicherheit und Zerrissenheit“ (S. 16) hervorgebracht hat.

Im apokalyptischen, jüdischen Denken ist die säkulare, gegenwärtige Zeit „die Zeit der Ohnmacht und Abwesenheit“ Gottes, „die Stunde der Finsternis“, „die Zeit der Triumphe der Feinde Gottes“. Erst nach der „gewaltsamen Vernichtung des gegenwärtigen Zeitalters“ besteht Hoffnung auf die „kommende Zeit“ der vollkommenen Herrschaft Gottes und des Friedens (vgl. S. 22).

Orthodoxe Juden sehen den Zionismus als Widerspruch zu ihrem jüdischen Glauben

Wer diese These von der Judaisierung der Welt als Inbegriff und Kennzeichnung des geschichtlichen Prozesses überdenkt, dem werden sehr rasch eine Vielzahl von Aussagen von berühmten Beobachtern, Philosophen, Politikern und Kirchenführern einfallen, welche diese These bestätigen.

Er mag da beispielsweise an so umstrittene Politiker vom Rang eines Putin, Ahmadinedjad oder Mahatir denken, die sich nicht gescheut haben, von einer „Zionisierung“ der Welt zu sprechen. Stehende Ovationen von bald 80 Staatsoberhäuptern, Königen und Stammesführern erhielt der damalige Präsident von Malaysia, Muhamad Mahatir, als er im Jahre 2003 auf der Konferenz der Organisation Islamischer Staaten die jüdische Beherrschung der Welt seinen Zuhörern mit dem Satz ins Bewußtsein hob: „Europa hat 6 Millionen Juden umgebracht, doch heute beherrschen die Juden die Welt durch ihre Stellvertreter“ („by proxy“). „Judaisierung“, „Zionisierung“, „Israelisierung“ der Welt sind im politischen Diskurs längst zu Synonyma geworden. Und seit den Untersuchungen von John J. Mearsheimer and Stephen M. Walt über „The Israel Lobby and U.S. Foreign Policy“( Harvard 2007) wird kaum noch bestritten, daß der politische Einfluß des Judentums „bis in den letzten Winkel der Erde reicht“.

Viel diskutiert (und auch ins Deutsche übersetzt) wurde das Buch des an der Universität in Berkeley (Kalifornien) lehrenden Professors für russische Geschichte Yuri Slezkine „The Jewish Century“ (Princeton 2004). Mit unendlich vielen Fakten untermauert er die These, das 20. Jahrhundert sei „das jüdische Jahrhundert“ und als solches das Vorspiel für das jetzt anhebende „jüdische Zeitalter“ („Jewish Age“) gewesen. Amerika sei der Inbegriff der Moderne, ein Staat ohne Staatsnation, bestehend aus lauter Minderheiten und daher auch ohne „Fremde“ und ihre Diskriminierung. Das Niederreißen von Grenzen, die offene Gesellschaft, Demokratisierung, Globalisierung, Unionisierung, der freie Fluß von Kapital, Gütern und Dienstleistungen sei Ausdruck des „jüdischen Geistes der Moderne“ und des herrschend gewordenen „merkurischen“ Denkens. Modernisierung sei nichts anderes als „everyone becoming Jewish“ (S. 2). Dank der Modernisierung seien wir „alle zu Juden geworden“. Die Juden sind kein Volk im Sinne einer Ethnie. Sie sind auch keine „Rasse“, ja gut 95% nicht einmal „Semiten“. Es gibt auch keine „jüdischen Gene“ (vgl. Shlomo Sand: The Invention of the Jewish People, London 2009). Was Juden zu Juden macht und heraushebt, ist ihr Glaube, ihre Denkweise und ihre Kultur.

Verdienstvoll ist die Übersetzung und Neuherausgabe von „Essays aus dem Exil 1913–1937“ aus der Feder von Oscar Levy, erschienen unter dem Titel: „Nietzsche verstehen“ (Parerga-Verlag, Berlin 2005). Für Levy wurzeln Massendemokratie, Liberalismus, Kommunismus, Nationalsozialismus, Rassismus und die von der Französischen Revolution auf ihre Fahnen gehefteten „Werte“ wie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit auf der „semitischen Idee“, sie sind für ihn „Versatzstücke aus dem Alten und Neuen Testament“ und Beweis dafür, daß „die Juden sich über die Jahrhunderte hinweg stets und in allem durchgesetzt haben. Insbesondere das 19. Jahrhundert hat ihren Sieg bekräftigt“ (S. 176). „Als die Demokratie beweisen wollte, daß sie unmöglich geworden war, gebar sie Adolf Hitler …, er ist und bleibt das Kind Rousseaus und der Französischen Revolution. Nicht nur die Werte seiner Partei, sondern auch ihre Worte – Nationalismus, Sozialismus – entstammen dieser Revolution, minus des Antisemitismus, der homemade und teutonischer Zusatz ist“ (S. 250). Positiver als Levy gestimmt, führt David Gelernter die Grundwerte der amerikanischen Verfassung – Freiheit, Gleichheit, Demokratie – alle auf die Hebrew Bible zurück, aus der die Amerikaner die Kraft für die Mission schöpfen, ihre Werte in der ganzen Welt, wenn notwendig auch mit militärischer Gewalt, zu verbreiten (vgl. David Gelernter: Americanism and its Enemies, in: „Commentary“, Jan. 2005, S. 43ff).

Noch tiefer setzt das 2008 erschienene Standardwerk von E. Michael Jones, „The Jewish Revolutionary Spirit and Its Impact on World History“, an. „Wir Juden“, bestätigt ihm Elie Wiesel, „müssen Revolution machen, weil Gott uns das aufgetragen hat“ (S. 752). Es waren an vorderster Front immer wieder Juden, die die revolutionären Bewegungen im Laufe der Geschichte unterstützt haben. Sie haben sich mit den revolutionären Kräften der „Aufklärung“, der Russischen Revolution und der Bürgerrechtsbewegungen vereint, sie gefördert und gesteuert. Selbst die „Glorious Revolution“ in England (1688) „verdankt sich dem in Aufklärung und Protestantismus wirksamen jüdischen Einfluß“ (vgl. S. 500 ff.).

Patriarch Kyrill I. mit Klerikern: Die Orthodoxie hat sich bisher als nicht anfällig für eine Judaisierung erwiesen.

Über weite Strecken beruft sich E. Michael Jones auf das hochgelehrte Werk von Rabbi Louis Israel Newman „Jewish Influence on Christian Reform Movements“ (Columbia University Press, New York 1925, Neudruck 1966). Wie Newman in seiner fundamentalen Arbeit nachweist, ist der jüdische Einfluß auf die Ikonoklasten, die Waldenser, die Hussiten, die Anhänger Wycliffs, die Lutheraner, die Puritaner und die ganzen späteren protestantischen und evangelikalen Bewegungen kaum zu überschätzen. Dank dieses Einflusses wurden die USA mit ihren rund 80 Millionen Evangelikalen zu militanten Unterstützer der Zionisten und Israels. Zionistische Evangelikale bestimmen die politische Agenda sowohl der Demokraten wie der Republikaner bis hin zur neokonservativen Tea-Party.

Die Hauptstoßrichtung revolutionärer Juden zielt auf die katholische Religion. Jones definiert den revolutionären Juden als den Sohn Israels, der Jesus Christus als den Messias nicht anerkennt: Weist der Jude (im Gegensatz zu Paulus) den menschgewordenen Logos und damit auch die von diesem Logos gestaltete, christlich-gesellschaftliche Ordnung zurück, wird er unweigerlich zum Revolutionär (Jones, S. 15).

Die Strategie des revolutionären Juden kommt in den Worten eines führenden amerikanischen Neokonservativen zum Ausdruck: „Kreative Zerstörung (Anm. „creative destruction“) ist unser Sinn und Zweck, sowohl innerhalb unserer eigenen Gesellschaft als auch nach außen. Wir reißen die alte Ordnung jeden Tag nieder, vom Handel bis zur Wissenschaft, Literatur, Kunst, Architektur und vom Film bis zur Politik und Justiz. Unsere Feinde haben diesen Wirbelwind von Energie und Kreativität immer gehaßt, der ihre Tradition bedroht und sie wegen Unfähigkeit beschämt, mit uns Schritt zu halten. Da sie sehen, wie Amerika traditionelle Gesellschaften auflöst, fürchten sie uns, denn sie möchten nicht aufgelöst werden. Sie können sich niemals sicher fühlen, solange wir hier sind, denn unsere bloße Existenz – unsere Existenz, nicht unsere Politik – bedroht ihre Legitimität. Sie müssen uns angreifen, um zu überleben, genauso wie wir sie zerstören müssen, um unsere historische Mission zu vollbringen“ (Michael Ledeen: The War Against The Terror Masters. Wy It Happened. Were We Are. How We’ll Win. 2002, S. 212 f.).

Es braucht jetzt nicht mehr viel Phantasie die Revolutionen, die sich heute von Marokko über den nordafrikanischen Belt, den Nahen und Mittleren Osten, über Asien bis hin nach Indonesien und sogar Lateinamerika erstrecken und selbst die Alte Welt und China nicht verschonen, als Teile des geschichtlichen Prozesses der Modernisierung und Judaisierung der Welt zu verstehen.

In Europa hat allem Anschein nach jetzt „Kaiphas gesiegt, und nicht der Galiläer“. Wenige Tage nach Beendigung des Österreichbesuches von Papst Benedikt XVI. machte Klaus Hödl, der Leiter des Centrums für jüdische Studien an der Karl Franzens-Universität in Graz, darauf aufmerksam, daß „das moderne Europa eher als jüdisch denn als christlich zu bezeichnen“ sei: „Judentum, und nicht Christentum, … sei der Kern der westlichen Zivilisation“ („Der Standard“ vom 13. September 2007, S. 34).

Der traditionelle Ritus sah unten den zahlreichen Fürbitten am Karfreitag auch die für die „treulosen Juden“ vor

Der Prozeß der Judaisierung hat mit voller Wucht auch die Römisch-Katholische – in weitaus geringerem Maße die Griechisch- und die Russisch-Orthodoxe – Kirche ergriffen und ihre Glaubwürdigkeit erschüttert. Angesichts des Holocaust sieht sie sich gezwungen, sich von der Adversus-Judaios-Theologie und damit von ihren großen Heiligen wie Ambrosius, Chrysostomos, Augustinus oder Hilarius sowie von vielen, sogar heilig- oder seliggesprochenen Päpsten samt ihren Lehrschreiben zu distanzieren. Selbst eindeutige Aussagen in den Evangelien und Apostelbriefen über den Gottesmord und die Verurteilung von Juden, die nicht an Christus glauben und „den Teufel zum Vater haben“ (Joh 8, 44) werden mit Hilfe der historischen Methode uminterpretiert und relativiert. Wurden Menschenrechte wie Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit, Lehrfreiheit, Pressefreiheit einst als „Wahnsinn“ eingestuft – man denke nur an den Syllabus errorum von Pius IX. (1864) oder die Antimodernisten-Enzyklika von St. Pius X. (1907) –, gehören sie heute zu den unverzichtbaren Elementen der nicht mehr an seine Verdienste für die Gesellschaft geknüpften Würde des Menschen.

Die der Kirche zugewiesene Schuld am Holocaust wird kaum noch zurückgewiesen. und mit „Vergebungsbitten“ beantwortet. Kirche, Bibel, Evangelisten und Apostel gelten heute ganz allgemein als „antisemitisch“. Seit fast zweitausend Jahren hätten sie die geistigen und emotionalen Voraussetzungen für den Holocaust geschaffen (Daniel Jonah Goldhagen: Die Katholische Kirche und der Holocaust. Eine Untersuchung über Schuld und Sühne, Berlin 2002).

Goldhagen fordert von der Katholischen Kirche

  1. die Auflösung des Vatikanstaates („der letzte Gottesstaat in Europa“),
  2. die Eliminierung oder Neutralisierung von 450 antisemitischen Stellen des Bibeltexts durch eine ökumenische Weltversammlung,
  3. die Demokratisierung der autoritären und hierarchischen Strukturen der Kirche,
  4. Verzicht auf das Unfehlbarkeitsdogma,
  5. die Aufgabe ihrer imperialistischen Ambitionen (Zusammenführung der Völker unter der Herrschaft des Christkönigs),
  6. Anerkennung des Glaubenspluralismus (Gleichwertigkeit aller religiösen Glaubensbekenntnisse),
  7. Verzicht auf Heilsexklusivität, Zölibat und Diskriminierung von Frauen bei der Priesterweihe,
  8. Denkmäler für die jüdischen Opfer des kirchlichen Antisemitismus,
  9. politische Unterstützung für den Staat Israel,
  10. eine päpstliche Enzyklika über die Sünden der Kirche bei der Behandlung der Juden und über das künftiges Verhältnis der Kirche zum Judentum,
  11. Umerziehung der Gläubigen weg vom Antisemitismus – eine Kampagne, welche die Kirche „ins Zentrum ihrer Mission rücken“ und der sie „höchste Priorität einräumen“ müsse (S. 326).

Christliche Laienbewegungen haben sich diesen Forderungen zum guten Teil angeschlossen. Die protestantische Religionsgemeinschaft versucht ihnen weitestgehend und bis zur Selbstverleugnung zu entsprechen. In der Römisch-Katholischen Kirche erfolgte mit dem gerade von deutschen Kirchenfürsten stark vertretenen Verzicht auf Judenmission implizit die Anerkennung zweier Heilswege, so als sei „Gott ein Bigamist“, wie Robert Spaemann kritisch bemerkte („FAZ“, 26. August 2010). Der unaufhebbare, fundamentale Bruch zwischen Christentum und Judentum wird kaum noch thematisiert oder wenn, dann sogleich unter Antisemitismusverdacht gestellt.

Die Auseinandersetzung über die Neuformulierung der Karfreitagsbitte „pro conversione Iudaeorum“ durch Benedikt XVI. spricht Bände. Robert Menasse regte bereits an, die kirchlichen Äußerungen einem Verfahren nach dem Wiederbetätigungsverbotsgesetz“ zu unterziehen („Die Presse“, Spectrum, 24. September 2007). Bald könnte es soweit sein. Schließlich steht die Kirche gegen vieles auf, was den politisch Korrekten gut und teuer ist: Brechung von Tabus, Auflösung der Moral, Nichtunterscheidung von Gut und Böse, von Sünde und Tugend, Menschenrecht der Frau auf Kindestötung, obrigkeitliche Bevölkerungskontrolle und Kontrazeptionspropaganda, embryonale Stammzellenforschung, künstliche Befruchtung, Gender Mainstreaming, Feminismus, Homosexualität, gleichgeschlechtliche „Ehe“, Pornographie, Sexualunterricht ab dem Kindergarten, freier Sexualverkehr und Partnerwechsel, Ehebruch, Scheidung, Euthanasie, religionsfreier Unterricht, Verbannung der Kirche aus dem öffentlichen Raum, Trennung von Staat und Kirche, von Religion und Politik und ähnliches mehr.

Der jüdische Geist der Revolution hat sich in Aufklärung und Moderne weitgehend durchgesetzt. Der Glaube, ein Mensch wie jener Jesus von Nazareth, Sohn eines Zimmermanns, könne, wie es im Glaubensbekenntnis heißt, „wahrer Gott vom wahren Gott“ sein, wird schon von Baruch Spinoza als „absurd“ bezeichnet. Was orthodoxe Juden davon halten, ist jetzt bei dem Judaisten aus Princeton, Peter Schäfer, nachzulesen (Jesus im Talmud, Mohr-Siebeck, Tübingen 2007). In Lessings „Nathan der Weise“, einer Hommage für seinen Freund Moses Mendelssohn, wird jeder Hochreligion gleich gültiger Wahrheitsgehalt zuerkannt und damit der Relativismus nobilitiert. Für Feuerbach ist „Gott ein Geschöpf des Menschen“, und nicht der Mensch ein Geschöpf Gottes. Bei Marx ist jede Religion „Opium des Volks“, mit dem es ruhiggesellt wird um die Ausbeutung durch die herrschenden Klassen zu ertragen. Sigmund Freud bezeichnet Religion als eine Krankheit, die er als Neurose diagnostiziert. Die Naturwissenschaft hat den Schöpfergott durch die Evolution ersetzt. Begriffe wie „Allmacht“, „Dreifaltigkeit“, „Transsubstantiation“, „unbefleckte Empfängnis“, „Auferstehung von den Toten“ oder „ewiges Leben“ sind aufgeklärten Geistern kaum noch zumut- und vermittelbar. Das Dreistadiengesetz von Auguste Comte mit der Zuweisung der Religion an ein primitives, frühkindliches, vorwissenschaftliches Stadium der Menschheit hat seine Wirkung auf die Halbbildung der Massen nicht verfehlt.

Der Abschied vom Christentum hat für Europa fatale Konsequenzen. Es wird zur Beute des Antichrist und seine Zivilisation zum Opfer der „creative destruction“. Vielleicht nicht gerade durch Massenvernichtungswaffen, sondern, weit nachhaltiger, durch die Aggressivität eines atheistischen Humanismus, der heute hinter der Maske des Ökologen, Pazifisten und Ökumenikers sich verbirgt (Kardinal Giacomo Biffi, Vatikan-Fastenexerzitien 2007). Europa, das Christus verläßt, stirbt, notierte 1871 Dostojewskij in sein Tagebuch. Es stirbt nicht an Geburtenschwäche oder Ethnomorphose. Beides sind nur Symptome. Europa stirbt an der mit seinem Glaubensverlust verbundenen Fellachisierung.

 

Der Autor lehrte Politische Ökonomie in Wien, Graz und Aachen. Erstabdruck in: Wochenzeitung „Zur Zeit“, Wien, Doppelnummer 16–17 vom 22. April 2011, S. 13 und 16. Bebilderung und Bildlegenden redaktionell hinzugefügt.

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